Zum Nachdenken

Die Rattenmutter

Es war an einem Dienstag im August (21.08.2007). Im Laufe des Nachmittags hatte es begonnen, heftig zu regnen. Es sah aus, als ginge die Welt gerade unter. In großen Bächen rann das Wasser von den Feldern und überflutete in kürzester Zeit viele Straßen.

Da ich dringende Termine hatte, setzte ich mich in´s Auto und fuhr los. Der Regen prasselte unerbittlich auf die Windschutzscheibe meines Wagens, und die Scheibenwischer gaben sich die allergrößte Mühe, für halbwegs passable Sichtverhältnisse zu sorgen. Doch die Gischt der entgegenkommenden Fahrzeuge erschwerte ihre Arbeit zusätzlich.

Ich fuhr die Landstraße entlang, auf der reger Verkehr herrschte. Plötzlich bemerkte ich mit Entsetzen direkt vor meinem Wagen eine Rattenmutter, die bei diesem Unwetter todesmutig über die Straße lief. Ganz behutsam trug sie ihr Junges zwischen den Zähnen und versuchte mit aller Kraft, gegen die Wassermassen anzukämpfen.

In Sekundenschnelle prüfte ich die Verkehrssituation – ich konnte weder bremsen, da der Wagen hinter mir viel zu dicht auffuhr, noch konnte ich auf die Gegenfahrbahn ausweichen. „Lieber Gott“, dachte ich nur, „bitte beschütze diese arme Rattenmama!“ Gleichzeitig erwartete ich entsetzt das furchtbare Gefühl, mit dem Auto gerade ein Tier zu überfahren.

Doch nichts geschah. Ich versuchte schnell, durch einen Blick in den Rückspiegel herauszufinden, ob es dem Tier gelungen war, seinen Weg fortzusetzen. Aber ich konnte es nicht erkennen.

Völlig geschockt setzte ich meinen Weg fort. Die ganze Zeit über hatte ich dieses Bild vor Augen. Nur einen Bruchteil von Sekunden habe ich diese Situation wahrnehmen können, aber der Anblick der Rattenmutter hat mich unglaublich beeindruckt. Ich sah ihre Not, unter allen Umständen ihr Kind in Sicherheit bringen zu wollen. Unter größter körperlicher Anstrengung, jedoch mit enormer Sicherheit setzte sie trotz Verkehrs und heftigen Regens ihren Weg fort. Durch ihren Gang und ihre Körperhaltung hat sie mir das Gefühl völliger Unerschrockenheit übermittelt.

Ich weiß nicht, ob es ihr gelungen ist, den Rest der Straße zu überqueren und ihr Ziel zu erreichen. Ich wünsche es ihr und ihrem Kind. Und manchem Menschen wünsche ich in ähnlich schwierigen Situationen ebenso viel Kraft, Mut und Entschlossenheit.

Cornelia Siewert, 21.08.2007

Freunde haben keine Gebrechen

"Junge mit Hund" von Édouard Manet

"Junge mit Hund" von Édouard Manet

In einem Kleintiergeschäft hing folgener Zettel in einem Schaufenster: „Neugeborene, wunderschöne Hunde günstig zu verkaufen.“ Solche Anzeigen interessieren vor allem Kinder, und schon stand ein kleiner Junge im Geschäft und fragte den Verkäufer: „Was kostet so ein kleiner Hund?“ Der Besitzer antwortete: „Zwischen 30 und 50 Franken.“ Der Junge kramte in seiner Hosentasche und nahm einige Münzen heraus. Er sagte: „Ich habe nur 6 Franken 55. Darf ich sie trotzdem sehen?“

Der Mann lächelte und pfiff ganz leise. Aus der Türe hinten sprang eine Hündin, und hinter ihr torkelten fünf niedliche Welpen. Der letzte und kleinste Welpe hinkte und hatte Mühe, den anderen zu folgen.

Sofort zeigte der Junge auf diesen Hund und fragte: „Was ist mit diesem kleinen Hund passiert?“ Der Mann erklärte ihm, daß dieser Hund mit einem Defekt geboren sei und laut Tierarzt immer hinken und niemals richtig springen werde.

Fest entschlossen sagte der Junge: „Diesen Hund möchte ich kaufen!“ Der Besitzer des Geschäftes antwortete gutmütig: „Nein, diesen Hund wirst Du nicht kaufen – ich schenke ihn Dir!“

Der Junge machte ein verärgertes Gesicht, schaute dem Besitzer in die Augen und sagte: „Ich will ihn nicht geschenkt. Er ist ebenso wertvoll wie die anderen, und ich zahle den vollen Preis! Ich werde jetzt meine 6 Franken 55 als Anzahlung geben, und jeden Monat werde ich 5 Franken bezahlen, bis er ganz bezahlt ist.“

Der Mann antwortete ihm: „Du wirst doch nicht wirklich diesen Hund kaufen wollen, mein Sohn! Er wird nie springen, spielen und jagen können wie die anderen Hunde.“

Der Junge bückte sich, zog das linke Hosenbein herauf und zeigte ein schrecklich verstümmeltes Bein, welches mit einem Eisenstab unterstützt wurde. Er schaute den Mann erneut an und sagte: „Nun ja, ich kann auch nicht gut springen, und dieser Hund braucht jemanden, der ihn versteht.“

Der Mann schämte sich, und seine Augen wurden verräterisch rot. Lächelnd sagte er: „Mein Junge, ich hoffe nur, daß die anderen vier Hunde auch einen Besitzer wie Dich finden!“

Übersetzt und zum Teil abgeändert von Albin Schmutz

Der bessere Weg

Ein kleiner Junge, der auf Besuch bei seinem Großvater war, fand eine kleine Landschildkröte und ging gleich daran, sie zu untersuchen. Im gleichen Moment zog sich die Schildkröte in ihren Panzer zurück, und der Junge versuchte vergebens, sie mit einem Stöckchen herauszuholen. Der Großvater hatte ihm zugesehen und hinderte ihn daran, das Tier weiter zu quälen.

„Das ist falsch“, sagte er, „komm, ich zeig‘ Dir, wie man das macht.“

Er nahm die Schildkröte mit in´s Haus und setzte sie auf den warmen Kachelofen. In wenigen Minuten wurde das Tier warm, steckte seinen Kopf und seine Füße heraus, und kroch auf den Jungen zu.

„Menschen sind manchmal wie Schildkröten“, sagte der Mann. „Versuche niemals, jemanden zu zwingen. Wärme ihn nur mit etwas Güte auf, und er wird seinen Panzer verlassen können.“

Autor leider nicht bekannt

Die Geburt des Schmetterlings

Ein Wissenschaftler beobachtete einen Schmetterling und sah, wie sehr sich dieser abmühte, durch das enge Loch aus dem Kokon zu schlüpfen. Stundenlang kämpfte der Schmetterling, um sich daraus zu befreien. Da bekam der Wissenschaftler Mitleid mit dem Schmetterling, ging in die Küche, holte ein kleines Messer und weitete vorsichtig das Loch im Kokon damit sich der Schmetterling leichter befreien konnte.

Der Schmetterling entschlüpfte sehr schnell und sehr leicht. Doch was der Mann dann sah, erschreckte ihn sehr. Der Schmetterling der da entschlüpfte, war ein Krüppel.

Die Flügel waren ganz kurz, und er konnte nur flattern, aber nicht richtig fliegen. Da ging der Wissenschaftler zu einem Freund, einem Biologen, und fragte diesen: „Warum sind die Flügel so kurz, und warum kann dieser Schmetterling nicht richtig fliegen?“

Der Biologe fragte ihn, was er denn gemacht hätte. Da erzählte der Wissenschaftler daß er dem Schmetterling geholfen hatte, leichter aus dem Kokon zu schlüpfen.

„Das war das Schlimmste, was Du tun konntest. Denn durch die enge Öffnung ist der Schmetterling gezwungen, sich hindurchzuquetschen. Erst dadurch werden seine Flügel aus dem Körper herausgequetscht, und wenn er dann ganz ausgeschlüpft ist, kann er fliegen.

Weil Du ihm geholfen hast und ihm den Schmerz ersparen wolltest, hast Du ihm zwar kurzfristig Erleichterung verschafft, ihn aber langfristig zum Krüppel gemacht.“

Wir brauchen manchmal den Schmerz, um uns entfalten zu können – um der oder die zu sein, die wir sein können. Deshalb ist die Not oft notwendig – die Entwicklungschance die wir nutzen können.

Autor leider nicht bekannt

Die Dame im Café

Eine alte Dame setzt sich in ein Café. Die Kellnerin bringt ihr die Menü-Karte und fragt nach, was sie denn bestellen möchte.

Die alte Dame fragt: „Wie teuer ist bei ihnen ein Stück von der Torte“? Die Kellnerin antwortet: „5 Euro.“ Die gebrechliche alte Dame holt einige Münzen aus ihrer Tasche und beginnt langsam zu zählen. Dann fragt sie wieder: „Und wie teuer ist bei ihnen ein einfaches Stück Kuchen?“

Die Kellnerin war etwas gestreßt, da sie ja noch viele Tische bedienen mußte, und antwortete sehr ungeduldig: „4 Euro“. – „Das ist gut, dann nehme ich gerne den einfachen Kuchen“, antwortete die alte Dame.

Die Kellnerin brachte ihr genervt den Kuchen und legte gleich die Rechnung hin. „Immer diese geizigen Leute“, murmelte sie leise vor sich hin.

Die alte Dame aß ganz langsam und genußvoll den Kuchen, stand langsam auf, legte das Geld auf den Tisch und ging. Als die Kellnerin nun den Tisch aufräumen wollte, stellte sie fest, daß die alte zerbrechliche Dame ihr 1 Euro Trinkgeld hingelegt hatte. Sie bekam vor Rührung Tränen in die Augen. Aber es war zu spät um sich bei der alten Dame zu entschuldigen.

Sie begriff schmerzhaft und sich schrecklich mies fühlend, daß die alte Dame sich mit einem einfachen Stück Kuchen begnügte, um der Kellnerin Trinkgeld zu schenken.

Diese rührende Geschichte zeigt uns deutlich, daß wir nicht vorschnell urteilen dürfen. Denn bevor Du über jemanden urteilst, schau hinter seine Mauern. Erkenne seine Ängste und Sorgen. Dann wirst Du sehen, wie zerbrechlich der Mensch hinter der Maske ist…

(Autor leider nicht bekannt)

Der Strafzettel

Jack schaute kurz noch einmal auf seinen Tachometer, bevor er langsamer wurde: 73 in einer 50er Zone. Mist, das war das vierte Mal in gleicher Anzahl von Monaten.

Er fuhr rechts an den Straßenrand und dachte: „Lass den Polizisten doch wieder einmal herummosern über meinen Fahrstil. Mit etwas Glück würde ein noch schnellerer Autofahrer an ihnen vorbeiflitzen, an dem der Bulle mehr Interesse hätte.“

Der Polizist stieg aus seinem Auto, mit einem dicken Notizbuch in der Hand. War das etwa Bob? Bob aus der Kirche?

Jack sank tiefer in seinen Sitz. Das war nun schlimmer als der Strafzettel: Ein christlicher Bulle erwischt einen Typen aus seiner eigenen Kirche. Er stieg aus dem Auto, um Bob zu begrüßen.

„Hi Bob. Komisch, daß wir uns so wiedersehen !“

„Hallo Jack.“

„Ich sehe, Du hast mich erwischt in meiner Eile, nach Hause zu kommen, um meine Frau und Kinder zu sehen.“

„Ja, so ist das.“

„Ich bin erst sehr spät aus dem Büro gekommen. Diane erwähnte etwas von Roast Beef und Kartoffeln heute Abend. Verstehst Du, was ich meine?“

„Ich weiß, was Du meinst. Und ich weiß auch, daß Du soeben ein Gesetz gebrochen hast.“

Aua, dachte Jack. Das ging in die falsche Richtung. Zeit, die Taktik zu ändern.

„Bei wieviel hast Du mich erwischt?“

„Siebzig. Würdest Du Dich bitte wieder in Dein Auto setzen?“

„Ach Bob, warte bitte einen Moment. Ich habe den Tacho sofort gecheckt, als ich Dich gesehen habe! Ich habe mich auf höchstens 65 km/h geschätzt!“

„Bitte Jack, setz Dich wieder in Dein Auto.“

Genervt quetschte Jack sich wieder ins Auto. Ein Knall. Türe zu. Er starrte auf sein Armaturenbrett.

Bob war fleißig am Schreiben auf seinem Notizblock. Warum wollte Bob nicht seinen Führerschein und die Papiere sehen?

Dann klopfte Bob an die Tür. Er hatte einen Zettel in der Hand. Jack öffnete das Fenster, maximal 5cm, gerade genug, um den Zettel an sich zu nehmen. Bob reichte ihm den Zettel und ging dann zu seinem Auto, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

Jack faltete den Zettel auf. Was würde ihn dieser Spaß wieder kosten? Doch, Moment: War das ein Witz? Das war gar kein Strafzettel!

Jack las:

Lieber Jack,

ich hatte einmal eine kleine Tochter. Als sie sechs Jahre alt war, starb sie bei einem Verkehrsunfall. Richtig geraten; der Typ ist zu schnell gefahren.

Einen Strafzettel, eine Gebühr und drei Monate Knast – und der Mann war wieder frei. Frei, um seine Töchter wieder in den Arm nehmen zu dürfen. Alle drei konnte er wieder lieb haben.

Ich hatte nur eine, und ich werde warten müssen, bis ich in den Himmel komme, bevor ich sie wieder in den Arm nehmen kann. Tausend Mal habe ich versucht, diesem Mann zu vergeben. Tausend Mal habe ich gedacht, ich hätte es geschafft. Vielleicht habe ich es geschafft, aber ich muß immer wieder an sie denken. Auch jetzt. Bitte bete für mich.

Und sei bitte vorsichtig, Jack. Mein Sohn ist alles, was ich noch habe.

Bob

Jack drehte sich um und sah Bob nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Langsam fuhr auch er nach Hause. Zu Hause angekommen, nahm er seine überraschte Frau und die Kinder in den Arm und drückte sie ganz fest.

Das Leben ist so wertvoll. Behandle es mit Sorgfalt.

Verfasser leider nicht bekannt

Was sind die wichtigen Dinge in Deinem Leben?

Eines Tages hält ein Zeitmanagementexperte einen Vortrag vor einer Gruppe Studenten, die Wirtschaft studieren. Er möchte ihnen einen wichtigen Punkt vermitteln mit Hilfe einer Vorstellung, die sie nicht vergessen sollen. Als er vor der Gruppe dieser qualifizierten angehenden Wirtschaftsbosse steht, sagt er: „Okay, Zeit für ein Rätsel“.

Er nimmt einen leeren 5-Liter-Wasserkrug mit einer sehr großen Öffnung und stellt ihn auf den Tisch vor sich. Dann legt er ca. zwölf faustgroße Steine vorsichtig einzeln in den Wasserkrug. Als er den Wasserkrug mit den Steinen bis oben gefüllt hat und kein Platz mehr für einen weiteren Stein ist, fragt er, ob der Krug jetzt voll ist. Alle sagen: „Ja“. Er fragt: „Wirklich?“ Er greift unter den Tisch und holt einen Eimer mit Kieselsteinen hervor. Einige hiervon kippt er in den Wasserkrug und schüttelt diesen, so daß sich die Kieselsteine in die Lücken zwischen den großen Steinen setzen.

Er fragt die Gruppe erneut: „Ist der Krug nun voll?“ Jetzt hat die Klasse ihn verstanden, und einer antwortet: „Wahrscheinlich nicht!“ „Gut!“ antwortet er. Er greift wieder unter den Tisch und bringt einen Eimer voller Sand hervor. Er schüttet den Sand in den Krug, und wiederum sucht sich der Sand den Weg in die Lücken zwischen den großen Steinen und den Kieselsteinen. Anschließend fragt er: „Ist der Krug jetzt voll?“ „Nein!“ ruft die Klasse. Nochmals sagt er: „Gut!“

Dann nimmt er einen mit Wasser gefüllten Krug und gießt das Wasser in den anderen Krug bis zum Rand. Nun schaut er die Klasse an und fragt sie: „Was ist der Sinn meiner Vorstellung?“ Ein Angeber hebt seine Hand und sagt: „Es bedeutet, daß egal wie voll auch Dein Terminkalender ist, wenn Du es wirklich versuchst, kannst Du noch einen Termin dazwischen schieben“.

„Nein“, antwortet der Dozent, „das ist nicht der Punkt. Die Moral dieser Vorstellung ist: Wenn Du nicht zuerst mit den großen Steinen den Krug füllst, kannst Du sie später nicht mehr hineinsetzen. Was sind die großen Steine in eurem Leben? Eure Kinder, Personen, die Ihr liebt, Eure Ausbildung, Eure Träume, würdige Anlässe, Lehren und Führen von anderen, Dinge zu tun, die Ihr liebt, Zeit für Euch selbst, Eure Gesundheit, Eure Lebenspartner? Denkt immer daran, die großen Steine ZUERST in Euer Leben zu bringen, sonst bekommt Ihr sie nicht alle unter. Wenn Ihr zuerst mit den unwichtigen Dingen beginnt, dann füllt Ihr Euer Leben mit kleinen Dingen voll und beschäftigt Euch mit Sachen, die keinen Wert haben, und Ihr werdet nie die wertvolle Zeit für große und wichtige Dinge haben.“

Heute abend oder morgen früh, wenn Du über diese kleine Geschichte nachdenkst, stelle Dir folgende Frage: Was sind die großen Steine in Deinem Leben? Wenn Du sie kennst, dann fülle Deinen Wasserkrug zuerst damit.

Autor leider nicht bekannt

Der alte Großvater und sein Enkel

Es war einmal ein Großvater, der schon sehr, sehr alt war. Seine Beine gehorchten ihm nicht mehr, die Augen sahen schlecht, die Ohren hörten nicht mehr viel, und Zähne hatte er auch keine mehr.

Wenn er aß, floß dem alten Mann die Suppe aus dem Mund. Der Sohn und die Schwiegertochter ließen ihn deshalb nicht mehr am Tisch mitessen, sondern brachten ihm sein Essen hinter den Ofen, wo er in seiner Ecke saß.

Eines Tages, als man ihm die Suppe in einer Schale hingetragen hatte, ließ er die Schale fallen, und sie zerbrach. Die Schwiegertochter machte dem Greis Vorwürfe, daß er ihnen im Haus alles beschädige und das Geschirr zerschlage, und sagte, daß sie ihm von jetzt an das Essen in einem Holzschüsselchen geben werde. Der Greis seufzte nur und sagte nichts.

Als der Mann und die Frau einige Tage später zu Hause beisammen saßen, sahen sie, daß ihr Söhnchen auf dem Fußboden mit kleinen Brettern spielte und etwas zimmerte.

Der Vater fragte ihn: „Was soll das denn werden, Mischa?“ Und Mischa antwortete: „Das soll ein Holzschüsselchen werden, Väterchen. Daraus werde ich Dir und der Mutter zu essen geben, wenn Ihr alt geworden seid.“

Der Mann und die Frau sahen sich an und weinten. Ihnen wurde plötzlich bewußt, wie sehr sie den Greis gekränkt hatten, und sie schämten sich. Fortan ließen sie ihn wieder am Tisch sitzen und waren freundlich zu ihm.

Geschichte nach Lew Tolstoi

Shay – Eine wahre Geschichte

Gestern in der Nähe von Düsseldorf: Bei einem Wohltätigkeitsessen zugunsten von Schülern mit Lernschwierigkeiten hielt der Vater eines der Kinder eine Rede, die so schnell keiner der Anwesenden vergessen wird.

Nachdem er die Schule und ihre Mitarbeiter in höchsten Tönen gelobt hatte,
stellte er folgende Frage:

“Wenn keine störenden äußeren Einflüsse zum Tragen kommen,
gerät alles, was die Natur anpackt,
zur Perfektion.
Aber mein Sohn Shay ist nicht so lernfähig wie andere Kinder.

Er ist nicht in der Lage, die Dinge so zu verstehen wie andere Kinder.
Wo ist die natürliche Ordnung der Dinge bei meinem Sohn?”

Das Publikum war angesichts dieser Frage vollkommen stumm.

Dann erzählte er die folgende Geschichte:

Shay und ich waren einmal an einem Park vorbeigekommen,
in dem einige Jungen, die Shay kannte,
Baseball spielten.
Shay fragte: “Glaubst du, sie lassen mich mitspielen?”
Ich wusste, dass die meisten der Jungen jemanden wie Shay
nicht in ihrer Mannschaft haben wollten,
aber als Vater war mir auch Folgendes klar:
Wenn mein Sohn mitspielen durfte,
dann würde dies ihm ein< Dazugehörigkeitsgefühl> geben,
nach dem er sich so sehr sehnte,
und auch die Zuversicht,
trotz seiner Behinderung von anderen akzeptiert zu werden.

Ich ging also zu einem der Jungen auf dem Spielfeld und fragte,
ohne allzu viel zu erwarten, ob Shay mitspielen könne.
Der Junge schaute sich hilfesuchend um und sagte:
“Wir haben schon sechs Runden verloren, und das Spiel ist gerade beim achten Inning.
Ich glaube schon, dass er mitspielen kann.
Wir werden versuchen, ihn dann beim neunten Inning
an den Schläger kommen zu lassen.”

Shay kämpfte sich nach drüben zur Bank der Mannschaft
und zog sich mit einem breiten Grinsen ein Trikot des Teams an.
Ich schaute mit Tränen in den Augen und Wärme im Herzen zu.
Die Jungen sahen, wie ich mich freute, weil mein Sohn mitspielen durfte.

Am Ende des achten Innings hatte Shays Team ein paar Runden gewonnen,
lag aber immer noch um drei im Rückstand.
Mitten im neunten Inning zog sich Shay den Handschuh an
und spielte im rechten Feld mit.
Auch wenn keine Schläge in seine Richtung gelangten,
war er doch begeistert, dass er mit dabei sein durfte,
und grinste bis zu beiden Ohren, als ich ihm von der Tribüne aus zuwinkte.

Am Ende des neunten Innings holte Shays Mannschaft noch einen Punkt.
In der jetzigen Ausgangslage war der nächste Run ein potenzieller Siegesrun,
und Shay kam als Nächster an die Reihe.

Würden sie in diesem Moment Shay den Schläger überlassen
und damit die Chance, das Spiel zu gewinnen, aufs Spiel setzen?

Überraschenderweise bekam Shay den Schläger.
Jeder wusste, dass ein Treffer so gut wie unmöglich war,
denn Shay wusste nicht einmal,
wie er den Schläger richtig halten sollte,
geschweige denn, wie er den Ball schlagen sollte.

Als Shay allerdings an den Abschlagpunkt trat,
merkte der Pitcher,
dass die gegnerische Mannschaft in diesem Moment
nicht gerade auf den Sieg aus zu sein schien,
und warf den Ball so vorsichtig,
dass Shay ihn wenigstens treffen konnte.

Beim ersten Pitch schwankte Shay etwas unbeholfen zur Seite und schlug vorbei.

Der Pitcher ging wieder ein paar Schritte nach vorn
und warf den Ball vorsichtig in Shays Richtung.

Als der Pitch hereinkam,
hechtete Shay zum Ball
und schlug ihn tief nach unten gezogen zurück zum Pitcher.

Das Spiel wäre nun gleich zu Ende.

Der Pitcher nahm den tiefen Ball auf
und hätte ihn ohne Anstrengung zum ersten Baseman werfen können.
Shay wäre dann rausgeflogen, und das Spiel wäre beendet gewesen.

Aber stattdessen warf der Pitcher den Ball über den Kopf des ersten Basemans
und außer Reich- weite der anderen Spieler.
Von der Tribüne und von beiden Teams schallte es:
“Shay lauf los! Lauf los!”

Noch nie im Leben war Shay so weit gelaufen,
aber er schaffte er bis First Base.
Mit weit aufgerissenen Augen und etwas verwundert hetzte er die Grundlinie entlang.
Alle schrien: “Lauf weiter, lauf weiter!”
Shay holte tief Atem und lief unbeholfen,
aber voller Stolz weiter, um ans Ziel zu gelangen.

Als Shay um die Ecke zur zweiten Basis bog,
hatte der rechte Feldspieler den Ball …
er war der kleinste Junge im Team,
der jetzt seine erste Chance hatte, zum Held seines Teams zu werden.

Er hätte den Ball dem zweiten Baseman zuwerfen können,
aber er hatte verstanden,
was der Pitcher vorhatte,
und so warf er den Ball absichtlich ganz hoch
und weit über den Kopf des dritten Basemans.

Also rannte Shay wie im Delirium zur dritten Basis,
während die Läufer vor ihm die Stationen bis nach Hause umrundeten.
Alle schrien nun:
“Shay, Shay, Shay, lauf weiter, lauf weiter”

Shay erreichte die dritte Basis,
weil der gegnerische Shortstop ihm zur Hilfe gelaufen kam
und ihn in die richtige Richtung der dritten Basis gedreht und gerufen hatte:
“Lauf zur dritten!” “Shay, lauf zur dritten!”

Als Shay die dritte Basis geschafft hatte,
waren alle Spieler beid er Teams und die Zuschauer auf den Beinen und riefen:
“Shay, lauf nach Hause! Lauf nach Hause!”

Shay lief nach Hause,
trat auf die Platte und wurde als Held des Tages gefeiert,
der den Grand Slam erreicht
und den Sieg für seine Mannschaft davongetragen hatte.

“An diesem Tag”, so sagte der Vater,
während ihm die Tränen übers Gesicht liefen,
“brachten die Spieler von beiden Mannschaften ein Stück wahrer Liebe
und Menschlichkeit in Shays Welt.”

Der Vater fuhr fort: “Ich bin der Meinung, wenn ein Kind so ist wie Shay,
das geistig und körperlich behindert zur Welt kommt,
dann entsteht die Möglichkeit,
wahre menschliche Natur in die Tat umzusetzen,
und es liegt nur daran, wie die Menschen dieses Kind behandeln.”

Shay erlebte keinen weiteren Sommer mehr.
Er starb im folgenden Winter und hatte nie vergessen,
wie es war,
ein Held zu sein und mich so glücklich gemacht zu haben und zu sehen,
wie die Mutter ihren kleinen Helden unter Tränen umarmte,
als er nach Hause kam!”

NUN NOCH EINE KLEINE FUßNOTE ZU DIESER GESCHICHTE:

Viele scheinbar triviale zwischenmenschliche Kontakte stellen uns vor die Wahl: Geben wir ein bisschen Liebe und Menschlichkeit weiter oder verpassen wir diese Chance und machen die Welt dadurch ein bisschen kälter?

Ein weiser Mann sagte einmal, jede Gesellschaft sei danach zu beurteilen, wie sie ihre am wenigsten gesegneten Mitglieder behandle…

unbekannt

Die Würde des Schweins

Glückliches Schwein

Glückliches Schwein

In einer engen Box war es,
auf Beton und standesgemäß,
daß sie die Glühbirne der Welt entdeckte.
Sie war das Ferkel Nummer vier,
drei and’re lagen über ihr.
So ein Gedränge, daß sie fast erstickte.
Schon nach zwei Wochen Säug-Akkord
kam jemand und nahm Mutter fort.
Doch noch als die Erinnerung schon verblaßt war,
fiel’n manchmal dem jungen Schwein

der Mutter Worte wieder ein:
Die Würde des Schweins ist unantastbar,
hmmmmmmm, die Würde des Schweins ist unantastbar.

Der Kerker wurde ihr Zuhaus,
an einem Fleck tagein tagaus.
Und immer im eigenen Dreck ´rumsitzen.
Die feine Nase, der Gestank,
sie wurde traurig, wurde krank.
Und als sie sehr krank wurde, gab es Spritzen.
Sie wurd‘ zum Decken kommandiert,
das hat sie niemals akzeptiert,
daß Schweinesein nur Ferkelzucht und Mast war.
Und wenn man ihren Willen brach,
dachte sie dran, wie Mutter sprach:

Die Würde des Schweins ist unantastbar,
hmmmmmmm, die Würde des Schweins ist unantastbar.

Dann fuhr der Viehtransporter vor,
und packte sie an Schwanz und Ohr,
zusammen mit ihren Leidensgenossen.
Die zitterten und quiekten bang,
und fuhr’n und standen stundenlang,
viel enger noch als üblich eingeschlossen.
Das Schwein ist schlau, so ahnt es schon
die tragische Situation.
Sie wußte, daß dies ihre letzte Rast war.
Sie hat den Schlachthof gleich erkannt,
und sie ging ohne Widerstand.
Die Würde des Schweins ist unantastbar,
hmmmmmmm, die Würde des Schweins ist unantastbar.

Sie hat den Himmel nie geseh’n,
durft‘ nie auf einer Weide steh’n,
hat nie auf trock’nem, frischem Stroh gesessen.
Sie hat sich nie im Schlamm gesuhlt,
freudig gepaart, und eingepoolt.
Wie könnt´ ich dies‘ Häufchen Elend essen?
Die Speisekarte in der Hand,
seh‘ ich über den Tellerrand
und kann die Bilder wohl nie mehr vergessen.
Ich möchte nicht, Du armes Schwein,
an Deinem Leid mit schuldig sein,
weil ich in diesem Restaurant zu Gast war.
Und ich bestell von nun an wohl
den überback’nen Blumenkohl.
Die Würde des Schweins ist unantastbar,
Die Würde des Schweins ist unantastbar.

Reinhard Mey